Das Leben – ein Tanz in Raum und Zeit
Artikel im BSO Journal 2/2008 von Johanna Rossi
Angefangen hat alles mit dem Tango argentino. Es scheint viele Parallelen zwischen dem Tango, elementaren Lebensthemen, der Beziehungsgestaltung und Beratungssituationen zu geben – ein Werkstattbericht.
Das Geschehen im Tango argentino kann betrachtet werden als „getanzter Dialog“ innerhalb eines bestimmten Modus, als Bild für Team-Arbeit, für das „Führen und Folgen“ und als Metapher für die inneren Bewegungen in Beratungsprozessen
„Zeit, Kraft und Raum, das sind die Elemente, aus denen der Tanz lebt. Im Dreigestirn dieser elementaren Kräfte aber ist der Raum der eigentliche Wirkungsbereich des Tänzers, der ihm gehört, weil er ihn gestaltet.“
Mary Wigman
Tango – der getanzte Dialog
Der argentinische Tango ist ein improvisierter Tanz, in jedem Schritt geschieht Führen und Folgen. Dies erfordert eine bestimmte Art der Kontaktaufnahme, der inneren Einstellung und der Technik. Die Rollen im Paar sind verschieden, aber gleichwertig. Das Tango-Paar ist ein Bild für Ruhe in Bewegung oder Bewegung in Ruhe: Oberkörper und Arme ruhen in der Umarmung der Tanzhaltung, die Beine sind in Bewegung. Die Tanzenden teilen einen gemeinsamen Raum, ohne den jeweils eigenen aufzugeben; da findet Begegnung statt.
Diese Räume bewegen sich ihrerseits in einem grösseren, dem umgebenden Raum. Die Musik führt beide, das Paar ordnet sich der Musik unter und interpretiert sie. Gestaltung der Zeit geschieht über Rhythmus, Tempovariationen, Pausen etc
Ein gelungener Tanz bedeutet für mich Momente voller Präsenz, uneingeschränkter Aufmerksamkeit für mich, mein Gegenüber und die Musik. Eher ein Lauschen mit dem Körper, eine meditative Haltung der Hingabe, wenn die „Übermittlung“, der Impuls zur Bewegung und die Umsetzung ein fliessendes Geben und Nehmen, ein „Flow“ ist. Wenn das Denken ganz wegfällt, beide die Musik gemeinsam gestalten, aus dem Moment heraus, überraschend neu und einmalig und wenn ich das Gelingen als Geschenk/Gnade wahrnehme.
Tanz für Führungspersonen
Die offensichtlichen Parallelen zu Lebens- und Beziehungsthemen, meine eigene „ressourcen-fokussierte Wahrnehmung des Lebens“, dieser ganze Reichtum von Spielmöglichkeiten, Experimentier- und Lernfelder im Tango, in der Bewegung zu zweit, die lebendigen und sinnlichen Erfahrungen, die Einsichten in eigene und fremde Lernprozesse, das Wissen um die Herausforderung und den Gewinn, und nicht zuletzt positive Rückmeldungen von Teilnehmer/innen aus „Führungs-Etagen“ ermutigten mich, den getanzten Dialog für Teams und/oder Menschen in leitender Funktion anzubieten.
„Erzähle mir etwas, und ich werde es vergessen. Zeige mir etwas, und ich werde mich vielleicht nicht daran erinnern. Beteilige mich, und ich werde verstehen.“ Sprichwort der amerikanischen Ureinwohner
Für die Umsetzung meiner Ideen entwickelte ich vereinfachte Bewegungs-Sequenzen, die auf Selbstwahrnehmung eigener und fremder(Körper-)Muster und auf der Interaktion im „Paar“ fokusierten. Der Kontakt in Zweier-Übungen findet dabei vor allem über die Handflächen statt.
Ich wählte den Ausdruck „Folgen“ anstelle von „sich führen lassen“, denn ich setzte die aktive Einwilligung zum (irgendwie) „Mit-Gehen“ voraus, mindestens für Teilnehmende eines Schulungsprogrammes.
Erste Erfahrungen machte ich in einer sozialen Institution, dann wiederholt im Rahmen eines Schulungsprogramms für Kaderleute einer kantonalen Verwaltung und – in Zusammenarbeit mit einer erfahrenen Supervisorin – im Weiterbildungsprogramm der Landwirtschaftlichen Beratungszentrale (AGRIDEA) Lindau. Dazu kamen Seminare zu ähnlichen Themen („… die mit dem System tanzen“) in verschiedenen Institutionen.
Spiegelung des Führungsverhaltens
Eine erste Erfahrung war, dass Menschen schon bei der Vorstellung zurückschrecken, sie müssten sich „tänzerisch“ exponieren, sich öffentlich bewegen. Noch schwieriger ist es, sich gleichzeitig auf eine zweite Person einzulassen. Wenn allerdings die Teilnehmenden bereit sind, oder – im Rahmen einer Schulung zur Teilnahme verpflichtet – springt der Funke sehr schnell. Voraussetzung ist sicher meine persönliche Begeisterung. Gleich wichtig sind eine sorgfältige Einleitung und kleine Schritte bei der Sensibilisierung auf Thema und Bewegung. Die Übungen/Spiele müssen sofort Lust wecken und das Gefühl, etwas Spannendes entdecken zu können. Die Freude darüber, „es zu packen“ muss von Anfang an über eventuelle Ängste und ungute Erwartungen siegen.
Lehrziele waren, unter anderem:
- die Einsicht in das eigene Führungsverhalten zu vertiefen
- durch Feedback das Führungsverhalten gespiegelt zu bekommen
- neue Fähigkeiten zu entdecken, den Handlungsspielraum zu erweitern, zusätzliche Ressourcen zu erkennen
- Bestätigendes, Neues und Überraschendes zu erfahren
Mögliche Themen:
- Qualität der eigenen und fremden Dynamik wahrnehmen
- Impulse geben, annehmen, umsetzen
- Verantwortung übernehmen und abgeben
- mit Widerstand kreativ umgehen
- Führen als Beziehungsarbeit
- sich einem Gemeinsamen unterordnen und dieses gestalten
- wieviel Eigen-Wille ist dem Ganzen förderlich
Methode: Führen und Folgen
Grundsätzlich ist ja bekannt, dass Lernen unter Körperbeteiligung tiefer greift als Kopf-Wissen. So speichert unser Körper auch alte Erfahrungen und Verhaltensmuster, es besteht eine Wechselwirkung und gegenseitige Prägung zwischen Seele/Geist und Körper. Wenn jede dieser Ebenen im richtigen Moment „gehört“ wird, ist schon viel erreicht.
Der Bewegungs-Dialog vollzieht sich idealerweise auf einer nicht-begrifflichen Ebene. Wenn Menschen sich „in Bewegung bringen“, körperlich und nicht nur in ihrer Vorstellung, geschieht oft ganz Unerwartetes. Das Tun, die Aktion und die Reaktion darauf entziehen sich dem bewussten, steuernden Denken. Die Handlung geschieht zuerst und mehr intuitiv. Je mehr die Teilnehmenden ihr ganzes Wesen „ins Spiel bringen“, je mehr Experimentierfreude jenseits von richtig und falsch aufkommt, umso überraschendere Dinge geschehen. Das Selbstbild erweitert sich, wird korrigiert oder erhält durch das Gespiegelt werden neue Nuancen.
Im Seminar zum Thema „Führen und Folgen“ helfen meine Anleitungen den Teilnehmenden „an der Oberfläche“ bleiben zu können. Das Geschehen soll nahe am Thema sein. Nach den ersten Übungen stelle ich die Fragen so, dass ein möglichst wertungsfreies Schildern des Erlebten stattfindet. Gefragt ist das Wahr-Nehmen von dem, was sich gezeigt hat.
Das Tun wird durch verschiedene Methoden bewusst gemacht (spiegeln, verstärken, ins Gegenteil gehen, innere Einstellung/Bilder/Haltung ändern, etwas wünschen usw.). Dann wird die nächste Runde gestaltet. Probehandeln ist gefragt. „einmal etwas anders machen“ wirkt befreiend und erweiternd. Bestimmte Persönlichkeitsanteile ausgestalten dürfen und ihnen (und sich) Profil geben bringt Energiegewinn. Schwächen und Defizite werden dabei nicht ausgeblendet – auch diese zeigen sich – stehen aber nicht im Mittelpunkt oder werden „verwandelt“.
Erst zum Schluss führt eine moderierte Reflexion zum konkreten Transfer in den Berufsalltag. Manchmal stelle ich mir allerdings die Frage, wie viel Reflexion und Reden darüber wirklich förderlich ist und wo ein Zuviel des Analysierens kontraproduktiv ist – denn Denken fixiert auch immer, und die Sprache kann das Erlebte einengen oder lässt es verblassen. Zudem ist das „mit Leib und Seele“ Getane meist bereits eindeutig, d.h. spricht für sich. In Führungsseminaren wird aber das Erinnern und gedankliche Einordnen des eigenen Handelns erwartet, und es kann Raum für Fragen und Entwicklungsperspektiven öffnen.
Konkretes Beispiel einer Anleitung:
Die Partner/innen bestimmen, wer führt und wer folgt. Ich rufe die “Folgenden“ zu mir und gebe ihnen „heimlich“ die Aufgabe, im nächsten Tanz zwar zu folgen, aber unbeteiligt zu sein, d.h. wie „innerlich gekündigt“. Die Führenden wissen von dieser Aufgabenstellung nichts, werden aber mit Gewissheit die Veränderung spüren und sich instinktiv auf die neue Situation einstellen. Die Folgenden spüren/empfinden, auf welche Art und Weise sich das Führungsverhalten verändert. Ebenso erfahren die Führenden, wie sie mit der Irritation umgehen. Im anschliessenden sprachlichen Austausch können Aktion und Reaktion geschildert werden und daraus eventuell für eine nächste Runde Spielmöglichkeiten in alle Richtungen erprobt werden.
Im Feedback der Teilnehmenden eines Wochenendes wurde hauptsächlich genannt:
„Das Thema (Beratung und Führung) wurde gut erlebbar gemacht.
Mit allen Sinnen zu arbeiten macht Spass und Freude.
Die Kombination von Musik/Bewegung und Reflexion/Transfer ist eine wertvolle Erfahrung und Hilfe im Berufsalltag und im Leben.“
Und ganz entgegen meiner Vorurteile sind vor allem die Männer mit grosser Neugier in diese für sie ungewohnte Herausforderung eingestiegen. Von aussen beobachtet gingen sie einen Weg vom anfänglich eher sportlich geprägten „Kräftemessen“ in ein immer noch „handfestes“ und doch sensibleres Miteinander.
Tanz in der Einzel-Supervision
Wenn ich in der Supervision mit der Dezentrierung arbeite, setze ich bei Weitem nicht immer Tanz/Bewegung ein.
Wie schon erwähnt, ist die Hemmschwelle zur Bewegung bei den meisten Menschen relativ hoch – und die Dezentrierung als künstlerisch-spielerische Form einer „alternativen Welt-Erfahrung“ muss von Anfang an „glutschig“. Tanzen stimmt dann, wenn jemand sich in der Bewegung sowieso schon wohl fühlt und experimentierfreudig ist. Experimentieren heisst ja auch, etwas Ungewohntes riskieren. Es muss daher bereits ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen mir und dem Supervisanden bestehen.
Zudem ist Tanz eine flüchtige Kunst und das Werk steht nicht – wie ein Bild – zur Betrachtung da.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass bei grosser Hingabe an den Augenblick das analysierende Bewusstsein gedämpft und somit das Er-Innerte nicht sofort in Worte fassbar ist. In dieser „Schwierigkeit“ liegt meiner Meinung nach gleichzeitig eine Chance: Was der Körper einmal „weiss“, wirkt nachhaltig – auch unreflektiert (nicht nur im negativen Sinn!).
Nehme ich eine Musik dazu, sind wir unter Umständen schnell in einer Art leistungsorientiertem Ausdruckstanz, was nicht Sinn der Sache ist. Auch sind bald individuelle Bewegungsmuster sichtbar und die Gefahr ist gross, da anzusetzen und diese Eigenheiten korrigieren („erweitern“) zu wollen. Das würde dann meines Erachtens in Richtung Bewegungstherapie gehen und langfristige Prozesse in Gang bringen – was nicht Ziel einer Supervision sein kann und auch nicht umfänglich in meiner Kompetenz liegt.
Sich den Raum erobern
So beschränke ich mich auf zwei Dinge, wenn ich Bewegung/Tanz einbeziehe:
a) die Einteilung von Raum, Zeit und Kraft, d.h. ich lasse die Supervisandin „den Raum erobern“, in Besitz nehmen, sich im Raum positionieren. Dazu gehören auch Oben, Mitte, Unten in Bezug auf den eigenen Körper und den umgebenden Raum; ich lasse sie ihr Tempo, die Art und Weise des Gehens, Rennens, Kriechens usw. wählen und variieren. Dabei geschieht äussere und innere Bewegung. Einerseits ist sichtbar, wie sich das „Aussen“ verändert, z.B. kann der Boden so wahrgenommen werden, dass er unter den Füssen nach hinten weggestossen wird. Andererseits gibt es Orte/Standpunkte und Wege, bei denen es der Supervisandin empfindungs- und gefühlsmässig wohl ist, andere die ihr unangenehm sind – hier gibt es etwas zu explorieren, über das Empfinden wahrzunehmen und zu beschreiben.
Supervisorin und Supervisandin könnten gemeinsam als Choreografinnen Varianten kreieren, z.B. sich auf einen Ablauf, einen Weg im Raum einigen und diesen dann zu zwei sehr verschiedener Musikstücken gestalten. So ist eine Werk- und Prozessanalyse möglich. Allerdings braucht eine solche Dezentrierung Zeit!
b) Es gibt Leute, die wegen des Tanzes zu mir kommen und die Bearbeitung eines Themas über die Bewegung wünschen.
Dann bin ich Partnerin für den Supervisanden und wir gestalten eine Begegnung. Dabei nehme mit allen Sinnen das So-Sein und sich So-Zeigen des Supervisanden wahr. Dann gehe ich zu ihm in Beziehung. Oft geschehen dann zwei Dinge: Ich wähle (anfänglich) meine Interventionen so, dass sie – aus meiner Sicht – im engen oder weiteren Sinn etwas mit dem formulierten Anliegen des Klienten zu tun hat. Gleichzeitig gehe ich auf die Eigenheiten meines Gegenübers ein. Diese zeigen sich erst im Tun, in der Gegenwart. Wenn meine Präsenz gut ist („bei mir und in Beziehung sein“) erfahre ich selbst eine Dezentrierung, d.h. das Anliegen tritt in den Hintergrund (oder Untergrund?).
Die Inputs geschehen dann spontan und nicht aus einer Überlegung heraus. Dennoch bin ich – bei aller Spontaneität – gestaltend tätig. Durch verschiedene Aktionen setze ich z.B. bestimmte Akzente, mitfliessend oder auch mal als Provokation gedacht oder im Sinne einer Verstörung. Diese Zweier-Tänze – ohne Körperkontakt oder mit Kontakt über die Handflächen – inszenieren sich sozusagen von selbst (vom Selbst?). Etwas kommt zur Darstellung, „es“ entsteht im Sein und Tun. Irritationen helfen, das Gewohnte zu verlassen und neue Spielvarianten zu kreieren.
Meist gibt es für den Klienten überraschende Erkenntnisse, was die Wirkung dieser Form von „Rede und Gegen-Rede der Körper“ angeht.
Ein Beispiel: Jemand arbeitet zum Thema „zu dominant sein“. In der Bewegung zu zweit zeigt sich aber, dass es eine Frage des richtigen Zeitpunkts ist oder/und dass einige Grundvoraussetzungen nicht erfüllt sind, um freimütig und locker handeln zu können. Im Hin- und Her-Spiegeln und Ausprobieren kommen wir der Sache auf den Grund, finden heraus, welches Vorgehen in der unmittelbaren Zukunft wirklich „Hand und Fuss“ haben könnte.
Tango als Begegnungsraum in der Beratung
„Im Dialog – so er gelingt – ereignet sich die freie und befreite Bewegung zwischen Ich und Du. (…) Aus der Spannung des Aufeinanderzukommens und des sich gegenseitigen Einlassens kann das Dritte zwischen ihnen wachsen. Das Dritte ist immer neu, ungewohnt, überraschend. Das Dritte ist das zwischen ihnen entstandene Werk.“
Martin Buber
Supervision verstehe ich einerseits als kognitiven, selbstreflektierenden Lernprozess.
Jemand kommt in die Supervisionsstunde, um aus einer „Not-Enge“ hinaus zu finden. Etwas soll wieder in Bewegung kommen. Ich gehe vom Phänomen aus, von dem, was sich zeigt. Fragend und beschreibend finden wir heraus, „was es auch noch ist.“ Die Lösung darf einfacher sein als das Problem. Kleine Schritte sind okay. Eine pragmatische Haltung ist gefragt: Was ist machbar und möglich? (Pseudo-) Psychologische Erklärungen, Deutungen und Wertungen unterlasse ich (meistens). Ich kenne meine Methode (z.B. die lösungsorientierte, ressourenfokussierte Beratung) und wähle entsprechend die Werkzeuge (z.B. Fragekunst, Visualisierung, Dezentrierung). Ich stelle an mich den Anspruch, die meiste Zeit zu wissen, auf welcher Ebene ich mich befinde, behalte sozusagen den Überblick. Ich bin aktiv im Aushalten konfuser Momente, lasse zu, dass daraus etwas entsteht, das anschliessend mit dem Verstand einzuordnen ist.
Und andererseits ist Supervision Beziehungsarbeit. Da fallen Begriffe wie Methode, Werkzeug und Strategie weg. Es geht um die Haltung. Mit den Worten von Carl Rogers ist es eine Haltung von Empathie, Respekt, Wärme und Echtheit. Ich möchte das Wort Achtsamkeit – „awareness“ – noch dazunehmen, für mich eine Art frei schwebende Aufmerksamkeit, eine nicht wertende Offenheit, in der alles was ist, kommen und gehen darf. Idealerweise erfahre ich als zwei Bewegungen: eine grosse Öffnung und gleichzeitig eine Gegenbewegung in eine Verdichtung in der Tiefe. Dazwischen „schwinge ich“.
Wenn ich nun annehme, dass im Idealfall diese Qualität – anwesend und offen sein für die allernächste Bewegung – gelingt, sind wir in einem Raum, wo Stille und Akzeptanz die Grundlage ist. Hier ist ein Ausgangspunkt für Bewegungen.
Dies ist für mich auch eine therapeutische und heilende Haltung, sie bringt gute Voraussetzungen für die Begleitung fremder Prozesse. Alle kennen die heilende Erfahrung eines Gesprächs mit jemandem, der etwas von dieser Qualität in die Begegnung bringt.
Auch Therapeuten aller Richtungen gehen wohl von dieser Grundhaltung aus, um einen heilsamen Rahmen zu bieten.
Gewissheit statt Kontrolle
Mein Verstand kann einerseits die Prozesse über weite Strecken nicht mehr mitbestimmen, kontrollieren oder steuern. Das Bewusstsein ist „nicht-denkend“, hat aber einen hohen Grad an Wachheit. Andererseits ist der Qualitäten-Raum, in dem ich mich zusammen mit dem Gegenüber befinde, vollkommen stimmig, auch in Momenten der Irritation. Statt Kontrolle ist Gewissheit da. Gestaltbar sind und gestaltet werden die Momente der allernächsten Zukunft. Gleichzeitig fällt das Zeitgefühl weg.
Das Sprechen beschränkt sich auf kurzes Beschreiben und Abgleichen des Wahrgenommenen, oft in Bildern. Nach dem verbalen Austausch muss eine Weile der Sammlung und der Befreiung von Erwartungen eintreten, so dass – wenn überhaupt – der Raum wieder offen wird für einen Neubeginn.
Während der konkreten Arbeit, der „Einverleibung“, spüre ich keine Zweifel an der Richtigkeit des Tuns.
Dennoch beschäftigen mich Fragen nach dem theoretischen Hintergrund dieses Neuen (und doch auch Vertrauten), das bewegt und das ich nicht mehr als Supervision definieren kann:
Wie weit kann ich es verantworten, neue Fähigkeiten während dem beruflichen Tun zu aktivieren, auszubilden und einzusetzen? Genügt es zu wissen, dass ich zwar meine Umgebung mitpräge, auch mein Gegenüber – die Umsetzung, Deutung und Einordnung des Erlebten aber sowieso in der Kompetenz des Klienten liegt? Was ist der Massstab für gute Beratung? Genügen positive Rückmeldungen?
Und eine im Moment zentrale Frage: Wieviel zusätzliches Wissen ist für mich nötig, um weiterhin begründet handeln zu können?
In dieser Hinsicht deute ich meine Unvollkommenheit als „Fenster in die Zukunft“.