„schockierend! schockierend?“

Ca. 55-jährig reiste ich – wegen dem Tango – nach Buenos Aires, diesmal allein.
Zum Starten besuchte ich eine Nachmittags-Milonga (Tango-Tanzveranstaltung) in einem wunderschönen Jugendstil-Saal. Wie immer sassen die Männer auf einer Seite der Tanzfläche, die Frauen auf der andern. Welche Regeln und Gepflogenheiten man kennen sollte, damit man überhaupt zum Tanzen kommt, und wie das alles so läuft… das ist Stoff für andere Geschichten.
Jedenfalls: irgendwann musste ich aufs „stille Örtchen“. Ich trat durch die Tür und sah vor dem grossen Spiegel, auf einem Hocker sitzend, eine zierliche, aber wirklich alte Frau – wie ich später erfuhr, über 80 Jahre. Sie war gut geschminkt, hatte die Haare hochgesteckt, trug ein Samtkleidchen und zog sich gerade einen Strumpf hoch, der mit nichts als einem Strumpfband an ihrem doch sehr faltigen Oberschenkel halten sollte. Ich war ziemlich schockiert und muss einigermassen verdutzt geschaut haben; glücklicherweise interpretierte die Frau meinen Gesichtsausdruck positiv. Sie meinte, mit einem leisen Lachen: „Ach Mädchen, – was wir doch immer für einen Aufwand betreiben…. und wenn ich schauen, welche Männer heute zur Verfügung stehen, glaube ich nicht mal, dass es sich lohnt!“
Ich sah sie später tanzen, mit einem jungen und guten Tänzer. Und hatte definitiv etwas gelernt über Frauenbilder hier und dort!

Johanna Rossi
Johanna Rossi

Johanna Rossi tanzt und unterrichtet seit 18 Jahren argentinischen Tango. Seit 10 Jahren bewegt sie in Einzelarbeit Menschen, die eher Körperweisheit und verborgene Fähigkeiten ergründen wollen als Tanzschritte lernen. Seit 2004 ist sie Supervisorin und macht Erfahrungen mit Bewegung in Beratung und Schulung.

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