…oder: „Du sollst dir kein Bildnis machen!?“

April 28, 2017 - 5 minutes read

Können wir das überhaupt: ohne Bilder leben, ohne „Bilder“ ein Bewusstsein haben? Oder was ist ein „Bildnis“?

Ich „bilde mir ein“ was ich erlebe, – oder bilde ich es mir „nur“ ein? Ich lebe mit all meinen Sinnen und ich verlasse mich auf sie. Ich reihe Erfahrung an Erfahrung und kann mein Leben „wie ein Film“ vorbeiziehen lassen. Mir ist klar, dass es meine Wirklichkeit ist, die ich da „sehe“. Sie verändert sich ja auch in der Erinnerung. Ich entwickle auf dem Weg meine Subjektivität zu einem „Instrument“, das mit Vielem in Resonanz gehen kann. Die bunten Bilder meiner Erlebnisse lassen mir „nichts Menschliches fremd sein“. Und darüber freue ich mich!
Jene „Bilder der Wirklichkeit“, die ich mit meinen Mitmenschen teile, geben mir Sicherheit. Ich darf eigene Pfade gehe und „in der Gruppe wandern“.

Der Satz „Du sollst dir kein Bildnis machen“ mahnt mich vielleicht, an keinem meiner Bilder festzuhalten. Wer kennt sie nicht: Die leise Enttäuschung, wenn ein naher Mensch glaubt, uns „zu kennen“? Da ist natürlich mein Wunsch, „gesehen“ zu werden“ (eher „erkannt“? jetzt gerade, in diesem Moment?), aber sein Bild von mir soll nicht in Zement gegossen sein. Wenn ich mich ändere, möchte ich nicht zu lange gegen alte Fremdbilder ankämpfen müssen. Eher erwarte ich eine fragende Haltung…. Und genauso wird es auch für mein Gegenüber sein, wenn ich „Täterin“ bin.
Ich erfülle auch gerne mal fremde Erwartungen, sie bereichern mein Repertoire…..wenn ich dabei aktiv einer Einladung folgen darf.

„Kein Bildnis“ im Rückblick auf mein schon gelebtes Leben:
Es hätte kaum Sinn gemacht, aufgrund alte Erfahrungen schon zu „wissen, was kommt“. Die grossen Veränderungen und Richtungswechsel in meiner Biografie waren alle nicht voraussehbar, weil ich die kommenden „Angebote des Lebens“ schlicht nicht auf meinem Bildschirm hatte (wie hätte ich ahnen können, dass ich irgendwann als Assistentin die rechte Hand eines Orthopäden im Operationssaal sein würde,…. ohne medizinische Ausbildung? Oder: tanzen? 44-jährig, den Tango – von dem ich nichts wusste). Aber da waren immer wieder tief und still „Herzenswünsche nach Erfüllung von etwas Unbestimmtem“ (schwierig, Wörter zu finden).

 

Mit dem argentinischen Tango kam ein Übungsfeld in mein Leben, das vielschichtiger nicht sein könnte:
Ich bin in naher Beziehung zu einem Menschen, teile mit ihm einen Raum, bewege mich nach bestimmten Regeln in einer Gruppe (in einem grösseren Raum), – muss/soll/darf „bei mir sein“ (in meiner wahr-Nehmung), improvisiere den Weg, ….. zu etwas Übergeordnetem: der Musik!

Zu Beginn des Lernens kam Bild zu Bild, Vorstellung zu neuer Vorstellung darüber „wie es sein soll“.
Dann trat mehr und mehr die Vorstellung von einem zu erreichenden Ziel in den Hintergrund, verschwand ganz. Dafür wuchs die Freude am Prozess, an der Beobachtung „der Phänomene“, an den tiefen Gefühlen die das Erleben begleiteten, am kreativen Weg selber!
Sich „kein Bildnis machen“ gewann an Bedeutung. Keine Perfektion ist mehr zu erreichen, sich in den immer gleichen Figuren-Mustern zu bewegen wurde langweilig (niemals jedoch das einfache Gehen zu zweit, bei jedem Schritt anwesend). Die Begegnung mit Menschen (von denen ich doch wusste, wie sie tanzen) wurde und wird immer wieder zur Überraschung. Was ich im „Lernen“ als Scheitern definiert hatte, offenbarte sich oft als Schatz.

Wie von selbst ist mein ganzer Lebensweg „Tango“ geworden. Oder war ich nicht schon vorher genauso unterwegs? Und die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Tango hat mir dies einfach bewusst gemacht?
Und wie reizvoll: Anfänger-Geist jeden Tag, versuchen… Erfahrungen…. und „kein Bildnis“….. offen…..